Die Kommunion

Es war auch das Jahr seiner Kommunion, das große Ereignis im Leben eines kleinen Christenmenschen, die Teilhabe, das Kommunizieren in Gemeinschaft mit Gott.
Ihm wurde ein neues weißes Nylonhemd verpasst, das jetzt in Mode kam. Er fühlte sich elend, es juckte auf seiner Haut, die sehr empfindlich ist. Er kratzte sich unaufhörlich und wurde wund an Armen und Hals. Auch die Fliege, die man ihm an den Hals gesetzt hatte, die ihn zuschnürte, verleidete ihm das Fest. Er hasste diese Zwänge und Einengungen. Er würde später keine Krawatten und Fliegen tragen. Er war froh, als er nach der Zeremonie, die ihn wenig beglückte, die Fliege ablegen durfte. Er vertrug Nylon, Perlon, Chemie nicht auf seiner Haut, auch nicht die silberne Uhr, die er zur Feier des Tages geschenkt bekam. Er erfreute sich ihrer nicht. Er wollte keine Uhren tragen. Nach der Messe trabte er mit den Gästen nach Hause, unter denen auch Tante Hilde war, mit der er kindisch alberte. Er wurde streng getadelt ob seiner Ausgelassenheit, wo doch sein Bruder gerade an Krebs gestorben sei. Er war ganz verstört, denn man hatte ihm doch gesagt, sein Bruder sei im Himmel. Er wusste, sein Bruder ist bei Gott und dort ist es schön. Hatte er nicht gerade zum ersten Mal kommuniziert und war jetzt sehr eng mit Gott verbunden und seinem Bruder? Wieso durfte er sich nicht freuen und albern sein? Warum sollte er denn jetzt traurig sein? War es im Himmel gar nicht schön? Darauf wusste seine Mutter keine Antwort.
Im neuen Schuljahr gab es neben dem Fach biblische Geschichte jetzt das Fach Katechismus. Da ging es um Glaubenssätze und viele Dinge, die man auswendig lernen musste, die er nicht verstand und die der Pfarrer, der den Unterricht gab, nicht erklären wollte. Das war kein schönes Fach. Pfarrer Wöllering war dick und furchterregend in seiner schwarzen, befleckten Tracht. Der Pfarrer war zwar laut in der Kirche und schrie von der Kanzel auf die Kirchgänger ein, aber im Unterricht war er recht friedlich. Er schlug seine Schüler nie und tat auch sonst nichts, was verderblich war. Ihm waren die Schüler eher gleichgültig, er wollte seine Ruhe und ordnete im Unterricht das Lesen, das Aufschreiben und das Auswendiglernen der Glaubenssätze an. Er selbst saß meistens am Pult, las Zeitung und aß Käsebrote und beobachtete die Schüler bei ihrer Arbeit durch ein Loch in der Zeitung, das er zur Observation tückisch dort angebracht hatte.
An dem Katechismusunterricht konnten die beiden Schüler Georg Iller und Franz Hauser nicht teilnehmen. Georg und Franz waren Außenseiter, denn sie waren evangelisch. Sie hatten eine andere Religion und die war nicht gleichberechtigt anzusehen. Die Evangelischen hatten keinen Papst und kommunizierten nicht in gleicher Weise wie die Katholiken. Evangelisch zu sein hieß, einer falschen und daher minderwertigen Religion anzugehören.
Er spürte deutlich die Diskriminierung der beiden Mitschüler, sie waren isoliert.
Lehrer und Eltern vermittelten den Eindruck, dass diese Schüler anders seien und sie waren ja auch anders. Nicht nur, dass sie evangelisch waren – sie mussten während des Religionsunterrichts die Klasse verlassen und andere Unterrichtsstunden in anderen Klassen aufsuchen – sie lebten auch anders und sahen anders aus. War das nicht der Beweis? Georg hatte rote Haare und wohnte außerhalb des Dorfes hinter dem Bahndamm. Von einigen Erwachsenen hatte er gehört „Fösse, de doeget nich“, „Füchse, die taugen nicht“. Georg hatte rote Haare und war ein Fuchs. Man musste vorsichtig sein! Franz war schmuddelig und dick und wohnte weiter draußen in einem gammeligen Kötterhaus. War er nicht „nen Togetrokkenen“, ein Zugezogener, ein Flüchtling, der da draußen mit den Eltern in dieser alten Kaschemme sein Dasein fristete, ein erbärmliches Dasein, zwischen Hühnern und Enten die, wie Mitschüler berichteten, in den Wohnräumlichkeiten herumspazierten.
Ja, Georg und Franz waren anders, wie die Juden früher, die es nicht mehr gab im Dorf oder die Ausländer, die es noch nicht gab im Gemeindewesen. Die Erwachsenen sagten den Kindern, sie sollten Georg und Franz nicht ärgern und als Menschen akzeptieren, sie könnten ja nichts dafür, dass sie einer anderen Religion angehörten. Sie waren Sonderlinge, so wie der Junge, der seinen Vater nicht kannte, der mit seiner Mutter in der Nähe der Kirche wohnte, der Mutter, die ihr Kind von jemandem bekommen hatte, der sie nicht heiraten wollte, der Junge, der also unehelich geboren war. Es war eine schlimme Sache, unverheiratet und ohne Mann mit einem Kind zu leben, das war mit der christlichen Lehre nicht vereinbar. Die Mutter hatte schwer gesündigt und die Frucht ihrer Sünde war der Junge. Der Junge konnte nichts dafür und musste toleriert werden in der Dorfgemeinschaft, aber er wurde despektierlich behandelt.
Andersartige Menschen und Kinder waren zu tolerieren, man durfte sich allerdings nicht gemein machen mit ihnen. Katholische und evangelische Menschen sollten nicht heiraten und evangelische Menschen durften nicht in katholischen Einrichtungen arbeiten, auch wenn es keine anderen Einrichtungen im Dorf und in der Region gab. Vielleicht dachten einige Menschen darüber anders, aber sie schwiegen lieber, warum den Mund aufmachen, sich Ärger einhandeln. Wenn man aus der Fremde in sein Dorf zog, was selten der Fall war, so schwieg man besser, ordnete sich ein und passte sich an, verschwieg seine wahren Gedanken, manchmal auch seine Herkunft und familiäre Verhältnisse, wenn sie nicht einhergingen mit dem allgemeinen Gedankengut des dörflichen Lebens.

Diese Leseprobe stammt aus „Ein bisschen Freiheit vielleicht?“